Die Beteiligten in Uniform mit einem Drohnenmodell, links Alexej Wolkow, Chef der Raketen- und Artillerietruppe
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Inspektion: Russlands Verteidigungsminister Schoigu (Mitte) betrachtet eine Drohne, neben ihm rechts: Armeechef Gerassimow

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"Vorteil dummerweise nicht von Dauer": Kann Putin abwarten?

Trotz kleinerer militärischer Erfolge sind russische Beobachter skeptisch, ob der Krieg gewonnen werden kann. Wirtschaftlich könne Russland nicht mithalten. Obendrein fehlten Arbeitskräfte: "Es ist einfach nicht möglich, den Westen auszusitzen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Wenn wir das Bruttoinlandsprodukt Russlands und das der westlichen Länder miteinander vergleichen, wird der Munitionsvorteil, den Russland jetzt hat, dummerweise nicht von Dauer sein", so ein Beobachter auf einem der größten russischen Militärblogs mit 660.000 Fans: "Der Westen kann die Produktion steigern. Und da die dortige Gesamtwirtschaft viel größer ist als die Russlands, werden sie in der Lage sein, die Produktion stärker hochzufahren. Es ist einzig und allein eine Frage der Zeit." Es sei "einfach nicht möglich", die Militärhilfen des Westens auszusitzen. Im Zermürbungskrieg sei der Faktor Zeit zu "kostbar".

Diese Argumentation erinnert einmal mehr sehr an den Ersten Weltkrieg, als ebenfalls die wirtschaftlichen Ressourcen den Ausschlag gaben. Das Eingreifen der USA veränderte damals das Kräfteverhältnis in Europa entscheidend.

US-Kolumnist: "Katastrophe verhindern"

Anlass für die neuerliche Strategiedebatte sind Beiträge in viel beachteten internationalen Publikationen. Im Wirtschafts-Portal "Bloomberg" hatte Kolumnist und Politikwissenschaftler Hal Brands argumentiert, die US-Hilfen würden die Ukraine gerade in die Lage versetzen, das laufende Jahr militärisch zu "überstehen" [externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt]: "Manchmal geht es in der Außenpolitik nur darum, eine Katastrophe zu verhindern." Putin werde davon allerdings nicht sonderlich beeindruckt sein, die nächsten Monate würden für die Ukraine "ziemlich hässlich". Der Kreml werde seine Strategie des Aussitzens nicht ändern.

Im US-Fachblatt "Foreign Affairs" schreibt Jack Watling [externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt], Militär-Fachmann einer britischen Denkfabrik: "Das US-Militärhilfepaket wurde gerade rechtzeitig verabschiedet, um einen Zusammenbruch der Ukraine abzuwenden. Aber um die Richtung des Krieges wirklich zu ändern, muss es von einer weitaus umfassenderen Strategie begleitet werden, um den Konflikt erfolgreich zu beenden. Und das muss von Washington, seinen NATO-Verbündeten und Kiew selbst kommen." Entscheidend sei der Aufbau von "ausreichenden Produktionskapazitäten" für einen "stetigen Munitionsnachschub", und zwar in jedem Fall: Bei einer Niederlage der Ukraine sei das nötig, um die "Sicherheit der NATO" zu gewährleisten.

Exil-Politologe: "Plötzlich stabiler Konsens"

Der in England lehrende russische Exil-Politologe Wladimir Pastuchow argumentiert anders: "Taktisch ist die Situation für Russland vorteilhafter als für die Ukraine. Während der Westen von einem Waffenstillstand träumt und rosige humanistische Vorstellungen hegt, bremst er seine militärische Hilfe für die Ukraine – das allein reicht aus, damit Moskau den Friedensbringer spielen kann." Der Westen bemesse seine Hilfe für die Ukraine gerade so, dass Putin zwar "keine Chance" habe, die Ukraine zu besiegen, umgekehrt der "Ressourcenkrieg" aber auch nicht gewonnen werde könne.

"Auf die eine oder andere Weise tut Moskau vorerst so, als sei es bereit, den Krieg unter der Bedingung der Anerkennung seiner Territorialgewinne zu beenden, und der Westen gibt vor, seinen 'friedensliebenden' Signalen Glauben zu schenken", so Pastuchow: "Infolgedessen entstand im dritten Kriegsjahr plötzlich ein stabiler Konsens zwischen einigen westlichen Eliten und Moskau, dass Frieden im Austausch für territoriale Zugeständnisse auf Kosten der Ukraine eine gute und vor allem erreichbare Lösung sei."

Rekordverlust bei "Gazprom"

Der russische Wirtschaftswissenschaftler Igor Lipsitz vertritt den Standpunkt, dass Russland zwar finanziell "noch viele Jahre stabil" bleiben könne, allerdings keine Chance haben werde, zu einer Industriemacht zu werden: "Da China an Russland nur als Rohstoff-Lieferant und als Absatzmarkt für seine eigenen Produkte interessiert ist." Der Internationale Währungsfonds hatte Russland wegen der Kriegskosten erhebliche Wohlstandsverluste und ein weiteres Absinken des Lebensstandards hinter Kasachstan und Turkmenistan vorhergesagt.

Nicht gerade optimistisch stimmen dürften den Kreml auch die desaströsen Geschäftsergebnisse des Gazprom-Konzerns: Er machte einen Jahresverlust von umgerechnet rund 6,3 Milliarden Euro und ist damit zum ersten Mal seit 25 Jahren defizitär. Russische Ökonomen bezeichneten die Lage des Gas-Anbieters als "katastrophal schwach". Das Unternehmen exportierte so wenig Gas wie zuletzt 1985. Ein Angebot Putins, eine neue Pipeline nach China zu bauen, wurde in Peking bisher unkommentiert gelassen. Lipsitz spottete, aus dem "Nationalschatz" sei kriegsbedingt eine "Nationalbelastung" geworden, was auch für Aeroflot und andere Staatskonzerne gelte.

"Der 'Zermürbungskrieg', den der Kreml gegen die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten führt, richtet sich zunehmend gegen die russische Wirtschaft", fürchtet einer der viel zitierten russischen Kommentatoren: "Bei diesem Tempo der Entwicklung werden wir bis 2030 in einer noch schlechteren Lage sein als jetzt. Versteht die russische Führung das voll und ganz? Wird sie etwas dagegen tun? Unwahrscheinlich."

Haben die USA "Würgegriff" gelockert?

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Meinung des russischen Exil-Politologen Anatoli Nesmijan, der darauf verwies, dass das US-Finanzministerium russischen Banken trotz der Sanktionen bis 1. November weiterhin erlaubt, internationale Zahlungen im Energiebereich abzuwickeln. Washington habe den "Würgegriff" überraschenderweise etwas gelockert, womöglich in geheimer Absprache mit Peking: "Es handelt sich offenbar um eine recht weitreichende Vereinbarung 'unter dem Teppich'. Russland hatte hier Glück in dem Sinne, dass es sechs Monate Zeit bekommt, seine Lungen wieder mit Sauerstoff zu füllen, bevor es wieder am Ertrinken ist. Aber das hat nichts mit Humanismus zu tun."

China sei vielmehr "besorgt", dass der russische Markt, den es "praktisch kampflos" erobert habe, aufgrund der "äußerst komplexen Probleme direkter und indirekter Sanktionen" gefährdet sei: "Das erschwert die Beschaffung russischer Energierohstoffe für China erheblich. Es ist möglich, dass die Vereinigten Staaten hier ihren Gesprächspartnern entgegengekommen sind."

Nervosität im Militär? "Verteidigungsministerium äußerst wütend"

Derweil mehren sich die Anzeichen für eine gewisse Nervosität im russischen Militär: "Jeder hat verstanden, dass Minister Schoigu und die Führung des russischen Verteidigungsministeriums äußerst wütend sind", hieß es nach einem "nächtlichen" Krisentreffen im Hauptquartier, bei dem Schoigu die Rüstungsindustrie aufgefordert hatte, ihre Lieferungen deutlich zu erhöhen, um das "erforderliche Tempo der Offensive" aufrechterhalten zu können. Konkret verlangte der Minister kürzere Reparaturzeiten und mehr Ersatzteile. Schoigu steht unter Druck, seit einer seiner Stellvertreter wegen Korruption verhaftet wurde.

"Es steht jedem frei, Schoigu so zu verstehen, wie er es für richtig hält", amüsiert sich der Präsident der St. Petersburger Politikstiftung, Michail Winogradow, dem das "laute Schweigen" des Ministers auffiel, das geradezu "vorbildlich" für jeden russischen Beamten sei: "Entweder 'Alles läuft nach Plan' und 'Wir werden uns noch besser ausstatten'. Oder: 'Bitte erwarten Sie keine Wunder beim Tempo der Offensive – aber nicht wir sind daran schuld, sondern die Lieferanten von Waffen und Ausrüstung, ganz zu schweigen von den Zerstörungsmitteln, mit denen sie völlig in Rückstand geraten.'"

"Früher war Russland definitiv stärker"

Außenpolitisch muss Putin fürchten, dass neben Armenien weitere ehemalige Verbündete von der Fahne gehen und Russlands Machtbereich im eigenen Hinterhof geschmälert wird, was den Zeitdruck erhöht: "Es ist einfacher, die Länder aufzuzählen, mit denen es gelungen ist, die bisher reibungslosen Beziehungen aufrechtzuerhalten, als diejenigen, mit denen unser Verhältnis unter dem Druck der Umstände nach dem Übergang der Ukraine an die Seite des Westens neu geregelt werden muss", so der russische Blogger Dmitri Sewrjukow. Er nennt ein "zweideutiges Kasachstan", ein "aufbrausendes Georgien", ein "unfreundliches Moldawien" und ein "arrogantes Tadschikistan" als Beispiele von Nationen, mit denen Russland neuerdings Probleme habe.

Aus Tadschikistan kamen bisher viele dringend benötigte Wanderarbeiter, die Russlands Wirtschaft fehlen werden, seit das gegenseitige Verhältnis ausgesprochen frostig wurde. Putin hat es speziell nach dem jüngsten Terroranschlag in Moskau mit einer ausländer- und islamfeindlichen Stimmung zu tun, zahlreiche Tadschiken wurden abgeschoben, viele andere gar nicht erst ins Land gelassen.

Das düstere Fazit von Sewrjukow: "Diplomatisch war Russland früher definitiv stärker und hatte in der Vergangenheit, bevor die Ära der großen geopolitischen Konfrontation begann, mehr Vorteile. Damals gab es im engeren Kreis der GUS-Staaten keinerlei Probleme, und im weiteren Kreis der Partner der Russischen Föderation auf der ganzen Welt gab es keine so einschränkenden Faktoren für die Entwicklung von Freundschaft und Zusammenarbeit wie heute."

Keine Technik vom "bösen Westen"

Politologe Andrej Nikulin ist überzeugt, dass der Kreml allenfalls "ein paar Monate" auf billige Arbeitskräfte aus Zentralasien verzichten kann, also auch in der Migrationspolitik unter Zeitdruck steht [externer Link]. Ändern ließe sich das allenfalls durch Automatisierungsprozesse: "Das erfordert jedoch die vom bösen Westen bereitgestellte Technologie, sowie das Vertrauen der Unternehmen, dass sich ihre Investitionen in neue Technik und Ausrüstung auszahlen. Diesbezüglich beträgt der Anlagerenditehorizont in der Regel fünf bis zehn Jahre. In der gegenwärtigen Situation gibt es aber weder westliche Unterstützung dafür, noch die Möglichkeit, vorauszusehen, was in etwa sechs Monaten alles geschehen wird."

"Sie haben einfach Angst"

Sogar von einem "Zusammenbruch" der Einflussmöglichkeiten Moskaus in Zentralasien war die Rede. Länder wie die Türkei, China und Großbritannien nutzten dort ihre Chance. Dazu ein Blogger: "Wir werden nicht mehr als Macht wahrgenommen. Und in Asien ist Dominanz das einzige funktionierende Beziehungsmodell. Entweder ich oder du. So einfach ist das."

Der Kreml-Propagandist Sergej Markow erklärt sich Russlands Probleme mit den Nachbarn so: "Nicht die Spezialoperation, sondern der groß angelegte Hybridkrieg von 50 Staaten gegen Russland ist der Grund dafür, dass die meisten Länder bei der Zusammenarbeit mit Russland zurückhaltend sind. Sie haben einfach Angst."

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